Ulrich Heyden ist vielen Manova-Lesern bekannt. Seine sachlichen Berichte aus Russland, die man inzwischen nur noch auf freien Medienportalen lesen kann, heben sich meist wohltuend von den voreingenommenen Russland-Darstellungen der öffentlich-rechtlichen Medien beziehungsweise der großen privaten Medienkonzerne ab. Ebenso wenig betreibt er einseitige Parteinahme für russische Politik.
Ulrich Heyden lebt seit über 30 Jahren als freier Journalist in Moskau und wird in diesem Jahr 70 — ein guter Zeitpunkt, um auf ein ereignisreiches Leben als aktiver Zeitzeuge und Journalist zurückzublicken und die Leser an seiner wechselvollen persönlichen Entwicklung teilhaben zu lassen. Ein guter Zeitpunkt vor allem jetzt, da der Krieg in der Ukraine noch immer täglich viele Menschenleben auf beiden Seiten fordert und uns die Angst vor einer Eskalation in Gesamteuropa in Atem hält.
Das Buch ist geeignet, um so manchen, der sich mit einer pauschalen Verurteilung Russlands im sicheren Gefühl des moralisch Guten wähnt, ins Grübeln zu bringen. Es erinnert an die verschiedenen Stadien, die das Verhältnis der Westdeutschen zu Russland seit der Nazi-Herrschaft bis heute durchlaufen hat. Von rassistischem Hass und anhaltender Überheblichkeit, über Annäherung und Verständnis sowie Bewunderung für die einstige Sowjetunion — zumindest in bestimmten linken Kreisen — bis hin zur Wiederkehr offener Russlandfeindlichkeit.
Wohl kaum eine Biografie ist so sehr von der Entwicklung des deutsch-russischen Verhältnisses geprägt worden, wie die von Ulrich Heyden. 1954, neun Jahre nach Kriegsende, wird er in einer Hamburger Adelsfamilie geboren. Seine Kindheit ist von Kriegserzählungen seines militaristischen Vaters geprägt, der am „Russlandfeldzug“ teilgenommen hat. Auf geradezu schizophrene Weise vermittelt er dem Sohn eine Art kitschiges Fernweh nach Russland, gepaart mit der ungebrochenen deutschen Übermachtsfantasie, die deutsche Wehrmacht habe die Menschen in der Sowjetunion nur vom „bolschewistischen Joch“ befreien wollen. Schuldgefühle über den millionenfachen Massenmord an der Sowjet-Bevölkerung kommen in seinen Erzählungen nicht vor.
Wer dieses Milieu nie kennengelernt hat (wie etwa die Rezensentin, die in der DDR aufgewachsen ist), liest mit einiger Verblüffung, wie die Arroganz des nationalsozialistischen „Übermenschen“ auf deutschen Plüschsofas noch Jahrzehnte nach Kriegsende weitergepflegt wurde. Und das gepaart mit einem preußischen Erziehungsstil zu Disziplin und Härte. Der Journalist Heyden ist um größte Sachlichkeit bemüht, wenn er diese Verhältnisse rückblickend schildert.
Sein Vater wird zur eigenständigen Person, die er bei seinem Vornamen Wilhelm nennt. Er schildert ihn stellvertretend für eine gesellschaftliche Schicht, die sich der Aufarbeitung der Nazi-Zeit komplett verweigert hat.
Der Sohn Ulrich erfasst die moralische Katastrophe in den Erzählungen Wilhelms und beginnt zu hinterfragen. Schon als Zwölfjähriger ist er von einem links orientierten Lehrer fasziniert und schreibt erste rebellische Texte in einer Schülerzeitschrift. Sehr bald organisiert er sich in linken Gruppierungen und bricht den Kontakt zum Elternhaus zwischenzeitlich vollkommen ab. Sein Leben als Heranwachsender und junger Erwachsener ist von linkem Aktivismus geprägt.
In kurzen und prägnant geschilderten Kapiteln nimmt uns der Autor mit in die wirre Geschichte linker Organisationen in der ehemaligen BRD. Das Grunddilemma einer Linken, die vor lauter ideologischen Debatten ständig mit sich selbst beschäftigt ist, wird spürbar. Gleichzeitig staunt man über das intensive Engagement der jungen Aktivisten von damals, das weit über gelegentliche Demo-Teilnahmen — wie man es heute kennt — hinausging. Obwohl Sohn einer Adelsfamilie schlägt der jugendliche Ulrich Heyden den Weg der „höheren Bildung“ aus und geht „in die Produktion“, wo er mit anderen linken Aktivisten seine Kollegen und Mitlehrlinge von kommunistischen Ideen überzeugen will, unter anderem, indem er für die Zeitung Arbeiterkampf schreibt.
Mit dem Besuch von Demonstrationen und Konzerten wird Linkssein für ihn eine Art Vollzeitjob. „Als radikaler Linker fühlte man sich damals wie ein Mitglied einer weltweiten Familie von Revolutionären.“
Und mit Revolution meint Heyden – wie man sich wohl denken kann – nicht den Kampf für Gendersternchen, sondern nichts Geringeres als die historische Überwindung des Kapitalismus. Und dazu gehörte neben intensiver politischer Bildung auch das Interesse für die Länder des realen Sozialismus, das je nach linker Gruppierung von Begeisterung bis zu scharfer Kritik reichte. Zumindest aber war man bestrebt, die einseitigen Darstellungen der „Diktaturen hinterm eisernen Vorhang“, wie sie etwa das deutsche Fernsehen prägten, zu hinterfragen und nach alternativen Informationen zu suchen. Dieses Streben nach ausgewogener Betrachtung politischer Verhältnisse begleitet den Autor bis heute und macht seine Arbeit aus.
Im biografischen Rückblick gelingt ihm eine sympathische Mischung aus teils selbstironischen Schilderungen verbunden mit einer informativen Darstellung der linken Bewegungen in der ehemaligen BRD. Wir lernen einiges über die linke Splitterlandschaft und ihre Streitpunkte von damals.
Besonders eindrücklich schildert Heyden den scharfen Bruch dieser linken Bewegungen, der mit dem Ende des realen Sozialismus einherging. Der Begriff „Wendehals“, den viele wohl nur von ideologisch besonders flexiblen DDR-Bürgern kennen, bekommt hier eine weitere Bedeutung. Insbesondere wenn die Entwicklung der Grünen aus ehemaligen linken Gruppierungen nachvollzogen wird. Hier verlässt Heyden sinnvollerweise die chronologische Schilderung und demonstriert mit Zeitsprüngen den Salto mortale der einstigen Antikriegspartei zur offenen Kriegshetze — ein Selbstverrat wie er schlimmer nicht sein könnte.
Neben der Geschichte der Linken erzählt Heyden auch über die Entwicklung des deutschen Journalismus in Russland beziehungsweise in den postsowjetischen Ländern. Wir erinnern uns mit ihm an die kurze Ära der Entspannungspolitik Willy Brandts in den 1970er Jahren, die unter dem Motto „Wandel durch Annäherung“ so etwas wie einen einigermaßen respektvollen Umgang mit der Sowjetunion beziehungsweise den sozialistischen Ländern angestoßen hatte. Doch bereits zu Beginn der 1990er Jahre wird Heyden Zeuge von Schadenfreude über den Zusammenbruch und von deutschen Begehrlichkeiten und politischer Einflussnahme in den postsowjetischen Ländern. Besonders erhellend seine Feststellung:
Mit der Machtübernahme Putins endet nicht nur die geradezu völlige Freiheit westlicher Geschäftemacher in Russland, auch das journalistische Interesse der Deutschen erlahmt, Korrespondenten werden abgezogen, Büros geschlossen, nur noch wenige und meist jüngere Kollegen kommen und den meisten mangelt es an Sachkenntnis.
Heyden selbst reist Ende der 1980er und ab dem Beginn der 1990er Jahre mehrfach in die Ukraine und nach Russland, bevor er sich in Moskau endgültig als freier Korrespondent niederlässt. Korrespondentenvereinbarungen mit großen deutschen Zeitungen und öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten sichern seinen Lebensunterhalt.
Die Tatsache, dass er als einziger deutschsprachiger Journalist die gesamte Zeit in Moskau gelebt und zahlreiche Reisen an politische Schauplätze unternommen hat, macht die besondere Qualität des Buches aus. Es vermittelt neben vielen wichtigen Fakten zahlreiche Begegnungen mit Menschen vor Ort und erzählt ihre Geschichten. Dabei hält Heyden, wo immer es ihm möglich ist, journalistische Standards ein und lässt unterschiedliche Seiten zu Wort kommen. Allein die Kapitel zum Tschetschenien-Krieg wären eine eigene Rezension wert.
Ganz besonders brisant sind seine Schilderungen über die Ukraine, die das Aufkommen nationalistischer Bewegungen bereits Anfang der 1990er Jahre dokumentieren. Und er schildert in konkreten Beobachtungen die verantwortungslose Rolle deutscher Politiker und Journalisten, welche die Entfremdung zwischen der Ukraine und Russland nach Kräften befördern.
Insgesamt enthält dieses Buch also mindestens drei Geschichten: den Wandel des (west)deutsch-russischen Verhältnisses, die Geschichte der westdeutschen Linken und die postsowjetischen Entwicklungen. Sicher kann bei keinem dieser Themen ein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Es bleibt die biografische Erzählung eines Augenzeugen in journalistischer Qualität. Private Erzählungen über Freundschaften und Liebesbeziehungen bringen uns die russische Gesellschaft ganz besonders nahe. Passagenweise sind die Texte sogar von verblüffender Ehrlichkeit. Gerade das macht sie so vertrauenswürdig.
Wir lernen einen Journalisten kennen, der noch immer den Grundsätzen des deutschen Pressekodex folgt, der weitestgehend schildert, ohne zu werten und die faire Darstellung aus verschiedenen Perspektiven sucht.
Gerade das hat ihn seit 2014 sukzessive die Existenzgrundlage gekostet. Auch wenn es eine ganze Reihe kritischer Darstellungen russischer Politik von ihm gibt, weigerte er sich, einfache antirussische Narrative zu übernehmen, worauf seine Auftraggeber aus dem deutschen Print- und Rundfunkjournalismus sukzessive mit Kündigung reagierten. Als letztes beendete der Freitag die Zusammenarbeit, weil Heyden sich weigerte, die Mitverantwortung des Westens für den Einmarsch Russlands in die Ukraine zu verschweigen.
Dabei wusste der Redakteur Philip Grassmann sehr wohl, dass seine Weigerung, Ulrich Heyden erneut zu akkreditieren, den Journalisten in Not bringt. Umso wichtiger sind Heydens Beiträge für den deutschen Leser geworden. Aufgrund seiner Situation wäre ihm ein Bucherfolg mit höchsten Auflagen zu wünschen. Mehr aber noch, weil ein solcher Erfolg sein unbeugsames Lebenswerk würdigen würde.
Es ist ein Buch, das aus dem lebenslangen Wunsch nach Versöhnung zwischen den Menschen Deutschlands und Russlands entstand. Beeindruckend ist auch die Parallele zwischen Historischem und Privatem in Heydens Leben. Der Sohn eines ehemaligen Wehrmachtsoffiziers ist mit der Enkelin eines russischen Soldaten verheiratet, der 1941 in einem deutschen Kriegsgefangenenlager verhungert ist.
Hier können Sie das Buch bestellen: „Mein Weg nach Russland: Erinnerungen eines Reporters“
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